JETZT, WO IHR ANGST HABT

Anarchist*innen aus Berlin, in Solidarität und in Komplizenschaft
 
Es wird nun immer deutlicher, wie das vorherrschende Wirtschaftsmodell jede Äußerung individueller Freiheit, Gleichheit und sozialer Solidarität dem Gesetz des Profits und des übertriebenen Wettbewerbs opfert. Angesichts all dessen gibt es zahlreiche Szenarien der Revolte, die in allen Teilen der Welt explodieren und sich verästeln. Vom kurdischen demokratischen Konföderalismus bis zu den Gebieten der zapatistischen Autonomie, von Hongkong bis Chile. In den letzten Monaten hat die Art und Weise, wie die Covid-Pandemie gehandhabt wurde, die Ungleichheit zwischen denen, die unter dem System leiden, und denen, die behaupten, es zu kontrollieren, weiter verstärkt und verdeutlicht. Dadurch sind die sozialen Spannungen und ihr explosives Potenzial noch extremer geworden.
 
Der Tod von George Floyd ist an sich kein außergewöhnliches Ereignis im Zusammenhang mit der Brutalität eines Systems, das täglich tötet und verwüstet. Zur Zeit des globalen Lockdowns, der durch die Pandemie ausgelöst wurde, gab es eine internationale Explosion der Wut, die sich in vielen Formen manifestiert hat: von der Belagerung von Polizeiwache über die Plünderung jener Ware, zu denen viele Menschen keinen Zugang mehr haben, bis hin zu den großen Demonstrationen auf den Straßen.
 
Und unter den Schreien derer, die es satt haben, zu leiden und mit gesenktem Kopf zu dienen, und die im Hier und Jetzt fordern erhört zu werden, gibt es eine klare Botschaft: Selbst angesichts eines Systems, das mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und Technologien versucht hat, alle Aspekte unseres Lebens zu kontrollieren, zu organisieren, zu lobotomisieren und zu unterdrücken, ist das natürliche Gefühl der Rebellion und Würde nicht völlig ausgelöscht worden und taucht in seiner ganzen Kraft und Vielfalt wieder auf. Angesichts des gesellschaftlichen Zerfalls haben sich viele natürlich entschieden, den Kopf nicht zu senken und verschiedene Formen der Selbstorganisation der Wut und des eigenen Daseins zu initiieren. Dies können Individuelle und kollektive Erfahrungen sein, die ihre Einzigartigkeit und Unterschiedlichkeit beanspruchen, die aber gemeinsam gegen eine Macht kämpfen, die sie vereinheitlichen will, damit sie leichter kontrollierbar sind und vernichtet werden können, falls sie nicht mehr den Gesetzen des wirtschaftlichen Profits folge leisten.
 
Im gegenwärtigen internationalen Szenario wird die Opposition gegen dieses Ausbeutungssystem nicht durch eine einzige Oppositionsfront repräsentiert, sondern durch eine Vielzahl entgegenstehender Formen und Existenzen, von denen die meisten nicht darauf abzielen, in den Machtzentren, an die Stelle der anderen zu treten. Sie wollen ihre eigenen Erfahrungen der Selbstverwaltung verteidigen. Dieses wunderbare und chaotische Feuer wächst, verzweigt sich und reproduziert sich als immanente Biodiversität, und die Formen der Macht erscheinen unvorbereitet und schwach, um sich auf einer immer breiteren und schlüpfrigen Ebene der Realität zu bewegen. Wer kann sich in diesem Raum des vielgestaltigen Widerstands mit Geschick bewegen, wenn nicht diejenigen, die ihr Leben und ihre Handlungspraktiken auf der Zerschlagung aller Formen von Autorität, auf Solidarität, auf der Komplizenschaft mit den verschiedenen Kämpfen aufgebaut haben? Anarchist*innen, Kämpfer*innen des Ungewissen und Unerwarteten, die sich mit Leichtigkeit zwischen den Widersprüchen der Realität bewegen und den Wert jedes Kampfes in seiner Einzigartigkeit, Vielfalt und Stärke zu schätzen wissen, indem sie ein Sandkorn zwischen den Mechanismen der Macht sind. Und genau in diesen Kontext fügen sich die jüngsten repressiven Operationen ein, die in Italien gegen die Anarchist*innen durchgeführt wurden.
 
Die verschiedenen Staatsanwaltschaften und Polizeiorgane machen es nicht mehr länger zum Rätsel, dass sie das Ziel der Strafverfolgung von der Tatsache selbst auf die Kriminalisierung von Existenzkonflikten verlagert haben. Das System der Anklage konzentriert sich mehr und mehr auf politische Aktivität und Solidarität, auf die Ausarbeitung von Texten und Analysen, auf die akribische Untersuchung alltäglicher Verhaltensweisen, die nicht den Normen des schweigenden und gehorsamen Bürgers entsprechen. Von hier aus ist der Schritt kurz, um, wie es durch die Op. Ritrovo deutlich gemacht wurde, den präventiven Ursprung der repressiven Operation zu beanspruchen. Wenn im Zentrum des Kriminalisierungsprozesses nicht mehr die Fakten stehen, sondern die Verhaltensweisen, Ideen und unsere libertäre und antiautoritäre Art, die Realität zu interpretieren und zu durchqueren, dann führt uns all dies zu einer einfachen Schlussfolgerung: Ihr habt Angst.
 
Trotz der Macht eurer repressiven Mittel, trotz der Tatsache, dass ihr weiterhin in Kasernen und Gefängnissen einsperrt und foltert, trotz der Tatsache, dass ihr versucht, uns zu spalten und zu trennen, können wir eure Angst riechen; die Kontrolle über eine Realität zu verlieren, die sich in euren Augen nicht mehr unterjocht und einheitlich wirkt, sondern vielgestaltig, wütend und potenziell zerstörerisch. Eine Realität, die für uns Anarchist*innen der natürliche Kontext ist, in dem wir uns bewegen, in dem wir Beziehungen der Solidarität und Komplizenschaft mit unseren Fähigkeiten aufbauen. Wo Beziehungen durch verschiedenen Formen des Kampfes entstehen, die sich ausdrücken oder die potentiell explodieren könnten.
 
Falls euch die Sache nicht klar ist, versuchen wir euch eine einfache Geschichte zu erzählen: Im dichten Wald gibt es ein Lagerfeuer, um das sich eine kleine Gemeinschaft versammelt. Dieses Feuer repräsentiert ihre Träume, Wünsche, die Würde eines Weges der Anerkennung, der Selbstbestimmung, der Selbstorganisierung und der gegenseitigen Unterstützung. Ihre Wärme verbindet Menschen, die sich in ihrer Vielfalt vereint sehen. In den leuchtenden Flammen spiegeln sich die Träume der Anarchisten wider. Unsichere und schillernde Gesichter, die sich auf den auf den Weg in die Baumkronen des dichten Waldes begleiten, um denjenigen, die sich noch nicht von diesem Feuer erhoben hatten, zu zeigen, dass ringsum Tausende anderer Feuer leuchten. Und für jedes Feuer steht eine neue Gemeinschaft, andere Träume, andere Widerstände und Leben, andere vereinte Individuen der Vielfalt. Und am Horizont, im gleißenden Antlitz, schreitet ein Flächenbrand voran, der das Nichts erleuchtet.
 
Und gerade die Furcht, das die Flammen dieses großen Feuers sich verbreiten könnten, treibt, diesmal die Staatsanwaltschaft von Rom, dazu die üblichen Anschuldigungen, die wir nur zu gut kennen, gegen sieben Gefährt*inn zu erheben. Das Anlaufen dieser letzten repressiven Operation mit dem Namen Operation „Bialystok” ist nichts anderes als der x-te Versuch, uns zu erschrecken, uns zu spalten, uns aufzuhalten und unsere Gefährt*innen von den Straßen, von den besetzten Plätzen und von all jenen Orten zu entfernen, die in der Tat ein fruchtbarer Boden sein können, um die Brandherde der Revolte zu nähren.
 
Im Gegensatz zu euch haben wir keine Angst. Wir werden immer in Solidarität und in Komplizenschaft sein, die sich diesem berüchtigten und mörderischen Staat mit allen Mitteln entgegenstellen.
 
Ohne einen Rückschritt zu machen, werden wir unsere Wege zur Befreiung gemeinsam mit allen unseren Mitgefangenen in den Gefängnissen, die in ihrer Freiheit eingeschränkt sind, weiter verfolgen, mit der Gewissheit, dass die von uns eingeschlagenen Wege der Befreiung geradewegs darauf abzielen, die Mechanismen der Macht anzugreifen, die Pläne des Staates in all seinen gewalttätigen und autoritären Formen zu stören.
 
Ihr werdet niemals aus uns unbewaffnete Opfer machen, sondern unaufhaltsame Rebell*innen!
 
 
Unsere aufrichtigste Verachtung für eure Formen der Unterdrückung ist gleichbedeutend mit der Freude, eure Schwäche und Angst zu verspüren.
 
Bittet nicht dem Feuer um Vergebung, das euch auslöschen wird, es kennt keine Gnade.
 
 
Anarchist*innen aus Berlin