Chroniken des Ausnahmezustandes Nr. 7 – Wandzeitung aus #Trentino

1. Mai in Rovereto

Am 1. Mai gingen etwa zwanzig Gefährt*innen für etwa eine Stunde im Arbeiter*innenviertel Fucine mit einer Reihe von ausgedehnten Interventionen an den Gebäuden von Itea (Istituto Trentino Edilizia Agevolata) [1] auf die Straße. Wie auch am 25. April in Brione war dies eine Gelegenheit, sowohl über die strukturellen Ursachen der Epidemie zu sprechen – die alle mit der kapitalistischen Art der Ausplünderung und Ausbeutung der Natur zusammenhängen – als auch darüber, wie die Confindustria und die Regierung damit umgegangen sind und ein Massaker angerichtet haben. Im Rahmen dieser Initiative wurden die Einwohner*innen von Itea, welche sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden (die Verantwortlichen der Provinzbehörde kündigten ein Mietstopp für Ladenbesitzer*innen, aber nicht für Mieter*innen an), aufgefordert, sich zu organisieren, um keine Miete zu zahlen. Es wurde betont, dass das Verbot mehr Menschen unter freiem Himmel zu treffen – das auch nach dem 4. Mai fortbestehen wird -, uns isolieren und passiv gegenüber dem halten soll, was sie für uns vorbereiten: die Kredite, welche die Regierung von den europäischen Institutionen und den inländischen Gläubigern (Banken, Versicherungen, Investmentfonds) fordern wird, werden durch eine verstärkte Ausbeutung der Arbeiter*innen und der ärmsten Schichten der Gesellschaft zurückgezahlt, ein Aspekt, in dem sich „Pro-Europäer*innen“ und „Souveräne“ einig sind. Um sich dem – und der Einführung von 5G – zu widersetzen, ist es notwendig, soziale Eindämmungsmaßnahmen verantwortungsvoll zu verletzen. Einige Bewohner*innen – vor allem junge Menschen – haben die Initiative ergriffen. Zwei Polizeistreifen hingegen haben sich auf Distanz gehalten.

„Wenn wir arbeiten können, können wir auch streiken.“

Unter diesem Slogan wurden in den meisten Logistikketten zwischen dem 30. April und dem 1. Mai Blockaden und Streiks organisiert. In Bologna, in Casoria, in der Provinz Neapel, in Turin, in Campi Bisenzio, in Calenzano, in Modena (wo die Proteste bereits Anfang der Woche begonnen hatten). Und dann Genua, Mailand, Brescia, Bergamo, Piacenza, Florenz, Rom, Caserta… Wieder einmal bestätigten sich die Spediteur*innen – zumeist Immigrant*innen – als der kämpferischste Sektor der Lohnklasse. Auch die Fahrer*innen aus Turin und die Transportreiniger*innen aus Neapel streikten, und am 30. April blockierten sie die U-Bahn.

Im Bauch der Bestie

Während die italienischen Medien nur den Protesten der Trump-Anhängerinnen Raum geben, welche die Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit ohne Wenn und Aber fordern (dieselbe Position, die die Liga einnimmt und die auch von den Faschistinnen vertreten wird, welche versuchen, sich hinter den „Trikolormasken“ zu verstecken), gab es am 1. Mai in den Vereinigten Staaten massive Streiks gegen Giganten wie Amazon, Whole Food, Walmart, Target. Die Forderungen sind die Schließung der Standorte, an denen es zu Ansteckungen gekommen ist, keine Einschränkungen bei den Tests für potentiell infizierte Arbeiter*innen, die Zusatz Entlohnung von gefährlicher Arbeit, die Unterbrechung der Lieferung von nicht lebensnotwendigen Gütern und das Ende der Vergeltungsmaßnahmen gegen Arbeiter*innen, welche mehr Sicherheit am Arbeitsplatz fordern. Krankenpfleger*innen gingen vor 130 Krankenhäusern in 13 Staaten auf die Straße, um neues Personal zu rekrutieren, gegen den Mangel an Schutzausrüstung und gegen Versuche, die Demonstrant*innen zum Schweigen zu bringen. Gemeinsamer Nenner dieser und vieler anderer Demonstrationen, ist der Widerstand gegen Einsparungen und militärische Intervention durch die Stars and Stripes. Seit März sind mindestens 140 wilde Streiks in den gesamten Vereinigten Staaten dokumentiert worden. Unterdessen breitet sich der Mietstreik in Kalifornien, im Bundesstaat New York, in Missouri und mehreren Großstädten aus.

„Verbunden“

Sich zu fragen, welchen praktischen Nutzen die uns seit mehr als einem Monat auferlegten Regeln zur Eindämmung der Ansteckung haben, hat sich bisher als eine grundlegende Übung des kritischen Geistes erwiesen. Ab dem 4. Mai, dem Datum der berüchtigten „Phase 2“, werden sich die Einschränkungen unserer Freiheiten (insbesondere der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit) nicht ändern, aber es wird möglich sein,… wen zu besuchen? In der ersten Version waren es die Angehörigen. Proteste. Sie haben das missverstanden, wir meinten stabile Beziehungen. Dieses Theater zeigt einmal mehr, dass bestimmte Maßnahmen sehr wenig mit Gesundheit zu tun haben. Welchen praktischen Nutzen hat es gegenüber der Eindämmung der Ansteckung, nur Verwandte treffen zu können? Schützen uns Familienbande vor einer Ansteckung? Gibt es eine Art Herdenimmunität, die mit dem Nachnamen verbunden ist? Die Antwort liegt für uns auf der Hand.

In den nächsten Tagen werden viele Aktivitäten wieder aufgenommen (abgesehen von den sicherlich nicht lebenswichtigen, welche nie aufgegeben wurden, wie z.B. Unternehmen, die Waffen produzieren); wir werden wieder mit nahezu voller Kapazität produzieren und konsumieren. Wir werden jedoch nicht zu unseren bedeutsamen sozialen Bindungen, unseren Freundschaften, unseren Kompliz*innen zurückkehren: jene, die auf dem Papier weniger wert sind als ein Verwandtschaftszertifikat. Geduld für diejenigen, die keine Familie haben oder diejenigen, welche die Beziehungen zu ihr abgebrochen haben, weil sie anderswo Zuneigung, Verständnis, Gegenseitigkeit gefunden haben.

Arbeit, Haus, Familie: dies ist das Wichtigste!

Aber wenn wir der sozialen Organisation, welche Pandemien verursacht, ein Ende setzen wollen, müssen wir auch lautstark die Bedeutung all unserer Bindungen betonen, insbesondere die uneigennützigsten und authentischsten – welche oft nichts mit Familien zu tun haben.

Gemeinsamkeiten

Alle Ausdrucksformen des menschlichen Lebens durch das Gesetz zu erfassen, ist eine totalitäre Utopie. Totalitär, weil ihre Verwirklichung Menschen zu maschinenähnlichen Wesen machen würde; Utopie, weil der Staat niemals alles kontrollieren kann, was wir tun. Aber er kann sich nähern, und zwar sehr stark, indem er die günstigsten Möglichkeiten nutzt. Was haben die Dekrete, die im Namen des Coronavirus-Notstands erlassen wurden, mit den zahllosen Freiheitsberaubungsgesetzen gemeinsam, welche die Geschichte dieses Landes durchzogen? Nicht nur und nicht so sehr die massenhafte Ausweitung der Beschränkungen, sondern die Tatsache, dass diese Dekrete – indem sie die Grundlagen der liberalen Ideologie umstürzen – nicht das als erlaubt definieren, was nicht ausdrücklich verboten ist, sondern das, was ausdrücklich erlaubt ist. Nun, wo befindet sich nur der Ort, an dem die Aktivitäten zwischen ausdrücklich Erlaubtem und ausdrücklich Verbotenem aufgeteilt werden? Im Gefängnis.

Obwohl der Staat noch nicht den notwendigen Konsens zur Einführung der „Immun“ Applikation für die digitale Verfolgung von sozialen Kontakten erzielt hat, hat er damit begonnen, von einigen halbfreien Gefangenen ein Smartphone für die Geolokalisierung zu verlangen. Als Ersatz für was? Elektronische Armbänder, mit deren Bau eine der Mobilfunkfirmen (Fastweb) beauftragt wird.

Der Fortschritt der digitalen Technologie ermöglicht, wovon die totalitären Regime der Vergangenheit nicht einmal zu träumen wagten.

Anmerkungen

[1] ITEA Spa (Istituto Trentino per l’Edilizia Abitativa) ist eine Aktiengesellschaft unter der Leitung und Koordination der Autonomen Provinz Trento. Sie betreibt die öffentlichen Mietwohnungen.

Chroniken des Ausnahmezustandes Nr. 7 – Wandzeitung aus #Trentino